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Neurobiologie

Warum der Mittelfinger so eine lange Leitung hat

Hemmung von den Nachbarnervenzellen bestimmt die Reaktionsgeschwindigkeit

Hand © SXC

Hemmende Einflüsse benachbarter Fingernervenzellen beeinflussen die Reaktionszeit unserer Finger. Finger am Rand – Daumen und kleiner Finger – reagieren deswegen schneller als der Mittelfinger, der dem „Störfeuer“ von je zwei Nachbarn pro Seite ausgesetzt ist. Das haben Neurowissenschaftler jetzt anhand von Reaktionszeitmessungen in Kombination mit Lernexperimenten und Computermodellen gezeigt. Durch gezieltes Lernen lasse sich dieser Geschwindigkeitsnachteil ausgleichen, berichten sie im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“.

Jeder Körperteil besitzt im Gehirn einen eigenen Nervenzellbereich – wir haben eine Karte unseres Körpers im Kopf. Die funktionelle Bedeutung dieser Karten ist aber weitgehend unklar. Welche Auswirkungen sie haben können, haben Neurowissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum jetzt in einem Experiment untersucht. Die Forscher stellten Versuchspersonen eine einfache Aufgabe, um die Entscheidungsgeschwindigkeit zu messen: Sie zeigten ihnen auf einem Monitor eine Grafik, die alle zehn Finger darstellte. Wurde einer der Finger markiert, sollte der Proband so schnell wie möglich mit ebendiesem Finger eine entsprechende Taste drücken.

Daumen und kleiner Finger waren dabei am schnellsten. Der Mittelfinger bildete das Schlusslicht. „Man könnte jetzt vermuten, dass das anatomische Gründe hat oder von der Übung abhängt“, so Hubert Dinse vom Neural Plasticity Lab am Institut für Neuroinformatik, „aber das konnten wir mit weiteren Tests ausschließen. Im Prinzip kann jeder Finger gleich schnell reagieren. Erst bei der Auswahlaufgabe ist der Mittelfinger deutlich benachteiligt.“

Computersimulation bildet Gehirnkarten ab

Um ihre Beobachtung zu erklären, nutzten die Forscher Computersimulationen auf der Basis eines sog. mean field-Modells. Es ist speziell für die Modellierung großer Nervenzellnetzwerke im Gehirn geeignet. Für diese Simulationen wird jeder einzelne Finger durch eine Gruppe von Nervenzellen repräsentiert, die in Anlehnung an die tatsächlichen Verhältnisse im somatosensorischen Cortex des Gehirns in Form einer topographischen Karte der Finger angeordnet sind. „Benachbarte Finger liegen auch im Gehirn und somit auch in der Simulation benachbart“, erläutert Dinse. Die Kommunikation der Nervenzellen untereinander ist dabei so organisiert, dass die Nervenzellen durch wechselseitige Erregung und Hemmung interagieren.

Hemmende Einflüsse von beiden Seiten verlangsamen den Mittelfinger

Die Computersimulationen zeigten, dass die längere Reaktionszeit des Mittelfingers in einer Mehrfachwahlaufgabe eine Folge der Tatsache ist, dass der Mittelfinger in der Reichweite der Hemmung von jeweils zwei benachbarten Fingern liegt. Daumen und kleiner Finger dagegen erhalten hemmenden Einfluss vergleichbarer Stärke von nur jeweils einem Nachbarfinger. „Mit anderen Worten: Die hohe Hemmung, die die Nervenzellen der Mittelfinger erhalten, sorgt dafür, dass es länger dauert, bis Erregung aufgebaut ist – sie reagieren dadurch langsamer“, sagt Dinse.

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Lernen gleicht Nachteile aus

Aus den Ergebnissen der Computersimulation lässt sich folgern, dass eine schwächere Hemmung durch die Nachbarfinger die Reaktionszeit des Mittelfingers verkürzen müsste. Dazu wäre eine sog. plastische Veränderung des Gehirns notwendig – Spezialgebiet des Neural Plasticity Lab, das sich seit Jahren mit der Entwicklung von Lernprotokollen beschäftigt, welche solche Veränderungen auslösen. Ein solches Protokoll ist die wiederholte Stimulation bestimmter Nervenzellgruppen, die das Labor schon in vielen Experimenten eingesetzt hat. „Wenn man zum Beispiel einen Finger elektrisch oder per Vibration über zwei bis drei Stunden stimuliert, dann verändert sich seine Repräsentation im Gehirn“, erklärt Dinse. Die Folge sind eine Verbesserung des Tastsinns und eine messbare Verminderung der hemmenden Prozesse in diesem Gehirnbereich. Daraus resultiert auch die Vergrößerung der Repräsentation des stimulierten Fingers.

Zweites Experiment bestätigt die Vorhersage

Die Bochumer Forscher führten nun ein zweites Experiment durch, in dem der rechte Mittelfinger einer solchen Stimulation unterzogen wurde. Das Ergebnis war eine deutliche Verkürzung der Reaktionszeit dieses Fingers in der Auswahlaufgabe. „Dieser Befund bestätigt unsere Vorhersage“, fasst Dinse zusammen. Die Bochumer Arbeiten stellen somit erstmals einen direkten Zusammenhang zwischen den sog. lateralen Inhibitionsprozessen und Entscheidungsprozessen her. Sie zeigen, dass Lernprozesse, die kortikale Karten verändern, weitreichende Auswirkungen nicht nur für einfache Unterscheidungsaufgaben, sondern für Entscheidungsprozesse haben können, die bisher sogenannten „höheren“ kortikalen Arealen zugeschrieben wurden. (PNAS 2012; doi/10.1073/pnas.1114250109)

(Ruhr-Universität Bochum, 08.02.2012 – NPO)

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