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Biologie

Fast alle Masthähnchen bekommen Antibiotika

Studie: 96,4 Prozent der Tiere mit Medikamenten behandelt

Der Einsatz von Antibiotika in der Hähnchenmast ist zur gängigen Praxis geworden. Dies zeigt eine neue Studie im Auftrag des NRW-Verbraucherschutzministeriums. Demnach wurden 96,4 Prozent der Tiere aus den untersuchten NRW-Betrieben mit Antibiotika behandelt, lediglich bei weniger als vier Prozent der Masthähnchen kam kein Wirkstoff zum Einsatz.

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„Jahrelang ist von der Geflügelwirtschaft und der Bundesregierung aus Union und FDP immer wieder versichert worden, dass der Einsatz von Antibiotika in der Tiermast nur die Ausnahme sei. Jetzt haben wir es schwarz auf weiß: Antibiotika-Einsatz ist die Regel und gängige Praxis“, sagte NRW-Verbraucherschutzminister Johannes Remmel gestern bei der Vorstellung des Abschlussberichtes in Düsseldorf. „Der Einsatz von Antibiotika hat ein Ausmaß erreicht, der alarmierend ist“, betonte der Minister. Die antibiotikafreie Hähnchenmast sei hingegen nur noch die Ausnahme.

Ergebnisse bundesweit übertragbar

Die neue Antibiotika-Studie ist das erste Gutachten in Deutschland, das den Einsatz von Antibiotika in der Hähnchenmast systematisch und umfassend untersuchte. Es handelt sich dabei um eine Vollerhebung der relevanten Masttierbetriebe (15,2 von 19 Millionen Tieren). Die Studienergebnisse sind nach Remmels Aussagen bundesweit übertragbar. „NRW ist hier kein Sonderfall, sondern steht exemplarisch.“

Daher fordert der Minister jetzt politische Konsequenzen aus der Studie: „Wir müssen die Antibiotika-Ströme in der Tierzucht endlich offen legen, um den Ländern die Möglichkeit zu geben, schnell und umfassend zu handeln. Und wir müssen einen Nationalen Aktionsplan haben, der dafür sorgt, dass der Antibiotika-Einsatz in der Tiermast zügig und substantiell reduziert wird. Ebenso sollte das Ziel einer grundsätzlich antibiotikafreien Tierhaltung in einem bestimmten Zeitraum angestrebt werden. Die Bundesregierung steht jetzt in der Pflicht.“

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Immer mehr multiresistente Keime?

Wissenschaftler warnen bereits seit langem vor dem regelmäßigen Einsatz von Antibiotika, weil hierdurch die Bildung multiresistenter Keime (MRSA) forciert wird. Die Bundestierärztekammer und die EU etwa sehen eine weltweite Zunahme von resistenten Keimen. Beim Menschen können diese Keime dazu führen, dass bei Erkrankungen notwendige Antibiotika keine oder nur unzureichende Wirkungen entfalten. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts sterben jährlich mehr als 15.000 Menschen in Deutschland wegen multiresistenter Keime.

„Wir erleben derzeit, dass multiresistente Keime zu einer gesundheitlichen Bedrohung für Menschen werden. Der Einsatz von Antibiotika in der Tierzucht forciert die Ausbreitung dieser Keime“, betonte Remmel. So hat etwa eine Langzeit-Untersuchung des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) in Fleisch- und Lebensmittelproben Keime nachweisen können, die zu 48 Prozent resistent gegen mindestens einen und zu 35 Prozent sogar resistent gegen mindestens zwei Wirkstoffe waren. Remmel: „Die Unterdosierung mit Antibiotika bei Tieren wirkt wie ein zusätzlicher Anreiz für Bakterien“. Dies müsse gestoppt werden.

Die wichtigsten Studienergebnisse

Laut der neuen Studie erhielten 96,4 Prozent der Tiere aus den untersuchten Beständen Antibiotika. Bei den Zuchtdurchgängen kamen über die Lebensdauer der Tiere – 30 bis 35 Tage – eine Vielzahl von Wirkstoffen zum Einsatz, teilweise bis zu acht verschiedene Antibiotika. Im Durchschnitt wurden drei verschiedene Wirkstoffe pro Durchgang verabreicht.

Die Dosierung mit Antibiotika betrug bei 53 Prozent der Behandlungen nur ein bis zwei Tage und lag damit außerhalb der Zulassungsbedingungen für bestimmte Antibiotika, so der Report. In Einzelfällen kam es aber zu einer Behandlungsdauer von 26 Tagen. Im Durchschnitt wurden den Tieren 7,3 Tage lang Antibiotika verabreicht. Bei kleineren Betrieben mit weniger als 20.000 Tieren und bei besonders langer Züchtungsdauer – mehr als 45 Tage – war der Einsatz von Antibiotika dagegen unterdurchschnittlich.

„Nicht nur der hohe Medikamenten-Einsatz ist überraschend, auch dass teilweise bis zu acht verschiedene Wirkstoffe über einen sehr kurzen Zeitraum verwendet werden, zeigt, dass Antibiotika systematisch eingesetzt werden“, so der Minister. Remmel: „Der massive Einsatz und die Art und Weise, wie die Medikamente verabreicht wurden, lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Entweder es handelt sich um Wachstumsdoping – was seit 2006 europaweit verboten ist. Oder aber das System der Tiermast ist derart anfällig für Krankheiten, dass es ohne Antibiotika nicht mehr auskommt. Das ist dann Gesundheitsdoping. Wenn es aber nur noch mit Antibiotika geht, dann ist für mich klar: Diese Art von Massentierhaltung wird aus rechtlicher und ethischer Sicht keinen Bestand haben können!“

Antibiotika-Missbrauch in Massentierhaltungs-Anlagen stoppen

In einer ersten Stellungnahme zur neuen Studie hat der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) sofortige Konsequenzen gefordert. Die Anwendung von jährlich rund 1.000 Tonnen Antibiotika in der Hähnchen-, Hühner-, Puten-, Schweine- und Kälbermast müsse drastisch reduziert werden, forderte der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger in Berlin.

„Der Ausweitung gefährlicher Resistenzen gegen in der Humanmedizin unentbehrliche Antibiotika muss Einhalt geboten werden. Der hohe Antibiotika-Einsatz in der industriellen Tierhaltung ist nicht nur ein Beleg für die nicht artgerechte Tierhaltung in der Agrarindustrie, er gefährdet auch die menschliche Gesundheit dramatisch. Das System Massentierhaltung ist offensichtlich auf Antibiotika angewiesen. Es stellt ein Risiko für die Gesellschaft dar und wird dennoch mit einer Milliarde Euro an jährlichen Subventionen vom Staat gefördert“, sagte Weiger.

Tierärzte als Apotheker?

Das Kernproblem sei, dass die Tiere wegen der nicht tiergerechten und krankmachenden Haltungsbedingungen regelmäßig Antibiotika bekämen, weil sie sonst oft nicht bis zur Schlachtung überleben würden, so der BUND-Vorsitzende. Zudem würden nach deutscher Gesetzeslage die Tierärzte nicht nur die entsprechenden Medikamente verschreiben, sondern auch quasi „als Apotheker“ fungieren und somit maßgeblich am Verkauf der Medikamente verdienen. Wer besonders viel verkaufe, erhalte zudem Rabatte von der Pharmaindustrie. Dabei müssten Tierärzte nicht einmal nachweisen, dass sie die Tiere genau untersucht, Krankheitserreger präzise identifiziert oder den Behandlungserfolg überprüft hätten.

Weiger forderte die Bundesregierung auf, die Haltungsbedingungen für die Tiere in der Landwirtschaft deutlich zu verbessern, für den Antibiotika-Einsatz klare Minderungsziele festzulegen und vorzugeben, dass vor einer Verschreibung von Antibiotika auch der entsprechende Nachweis für die jeweiligen Krankheitserreger dokumentiert werde. Sogenannte Human-Antibiotika mit Wirkstoffen, die für die Behandlung von Krankheiten beim Menschen unverzichtbar seien, dürften in der Tiermedizin nur noch in Ausnahmefällen eingesetzt werden.

(NRW-Verbraucherschutzministerium / BUND, 16.11.2011 – DLO)

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