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Neurobiologie

Mehr sehen kommt vom Gehirn, nicht von den Augen

Geschulte Beobachter sehen nicht mehr Details, sie verarbeiten Sehreize effektiver

Die Region im Präfrontalkortex, die bei der Schärfung der Wahrnehmung („Wahrnehmungslernen“) eine Rolle spielt. © Nationales Bernstein Netzwerk

Warum können geschulte Beobachter noch kleinste Details wahrnehmen, wo andere nichts Besonderes sehen? Forscher haben jetzt herausgefunden, dass solche Experten nicht mehr oder besser sehen können, sondern dass ihr Gehirn die Sehinformationen einfach besser und gründlicher auswertet. In der Fachzeitschrift „Neuron“ berichten sie, dass geschulte „Seher“ keine erhöhte Aktivität im Sehzentrum des Gehirns zeigen, wohl aber in einer für die Informationsverarbeitung zuständigen Region im präfrontalen Cortex.

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Weinkenner erkennen bereits am ersten Schluck den Jahrgang, Künstler sehen winzige Farbabweichungen und Blinde unterscheiden feinste Oberflächenstrukturen. Warum sind sie Laien auf ihrem Gebiet so überlegen? Sehen die Experten einfach mehr Details oder ist ihr Gehirn darauf geeicht, aus den verfügbaren Sehinformationen mehr herauszuziehen? Das haben jetzt Wissenschaftler der Charité – Universitätsmedizin Berlin, des Bernstein Zentrums Berlin, des Exzellenzclusters NeuroCure und der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg untersucht. Sie prüften am Beispiel visueller Reize, wie sich die Hirnaktivität im Laufe des Lernprozesses verändert.

Sehzentrum oder Hirnrinde?

Die Forscher untersuchten die Lernvorgänge am Beispiel einfacher geometrischer Skizzen. Im Experiment sahen die zwanzig Testpersonen für kurze Zeit ein kleines Streifenmuster auf einem Bildschirm. Sie sollten entscheiden, in welche Richtung die Streifen zeigten. Im Laufe der Zeit konnten sie dies immer besser erkennen. Parallel dazu maßen die Forscher Änderungen der Nervenzellaktivität im Gehirn mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT). Ihre Überlegung lautete: Beruht der Lerneffekt vor allem auf einer detaillierteren Darstellung der Reize, so sollte in erster Linie das Sehzentrum aktiv sein. Ist hingegen die Interpretation der Reize im Gehirn der Grund für die Fortschritte der Lernenden, so sollte sich das in den Bereichen zeigen, die für Entscheidungen eine Rolle spielen.

Information wird effektiver und genauer ausgewertet

„Die fMRT-Messungen zeigten deutlich, dass die Aktivität im Sehzentrum während des gesamten Lernvorgangs gleich blieb“, erklärt John-Dylan Haynes, Leiter des Berlin Center for Advanced Neuroimaging an der Charité. Eine Region im präfrontalen Cortex aber, die bei der Interpretation von Reizen eine wichtige Rolle spielt, wurde stetig aktiver. Daraus schlossen die Forscher, dass der Lernvorgang auf der Ebene der Entscheidungsfindung stattfindet.

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„Wenn sich unsere Wahrnehmung beim Lernen schärft, dann liegt dies nicht so sehr daran, dass mehr Information das Gehirn erreicht“, folgert Haynes. „Stattdessen lernen wir, mit der gegebenen Information immer mehr anzufangen. Wir sehen nach und nach in Bildern Details, die uns zu Beginn nicht bewusst sind. Ob ähnliche Effekte auch zum Beispiel für Weinkenner oder Spitzenköche gelten, könnte man auf der Basis unserer Experimente jetzt genauer untersuchen.“ (Neuron, 2011; doi:10.1016/ j.neuron.2011.02.054)

(Nationales Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience, 16.05.2011 – NPO)

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