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Genetik

Junge Gene genauso existenziell wie alte

Überraschendes Ergebnis wirft evolutionsbiologische Grundannahme über den Haufen

Wenn Gen G32376 blockiert wurde, stoppte die Entwicklung relativ spät. Das Gen ist rund 18 Millionen Jahre alt. © Science / AAAS

Entgegen bisheriger Lehrmeinung sind junge, erst spät in der Evolution entstandene Gene genauso überlebenswichtig wie alte. Das enthüllt eine in „Science“ veröffentlichte Studie mit gezielten Genblockaden an Fruchtfliegen. Diese überraschende Erkenntnis hat auch Auswirkungen auf die gängige Nutzung von Tieren als Modellorganismen, da ihre Aussagekraft möglicherweise geringer sein könnte als angenommen.

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In der Evolutionsbiologie ist es gängige Annahme, dass die Gene, die lebenswichtige Prozesse in einem Organismus steuern, sich meist schon sehr früh im Stammbaum entwickelt haben. Sie werden von Art zu Art weiter gegeben und bilden die Basis der Lebensform. Gene, die im Laufe der Evolution erst später dazu gekommen sind, sind dagegen nach geltender Lehrmeinung eher für weniger wichtige Aspekte des Lebens zuständig – eher Garnierung als Basis.

Doch Wissenschaftler um Manyuan Long von der Universität von Chicago könnte diese Sicht jetzt widerlegt haben. In ihrer Studie nutzten sie die Technik der RNA-Interferenz, um gezielt 195 junge Gene der Fruchtfliege Drosophila melanogaster einzeln auszuschalten und die Wirkung der Genblockade auf das Überleben des Tieres zu testen. Als jung galten in diesem Zusammenhang Gene, die vor ein bis 35 Millionen Jahren erstmals im Stammbaum der Fruchtfliegen auftauchten. Zum Vergleich wurde die gleiche Methode anschließend auch an älteren, bereits früher entstandenen Genen getestet.

Junge Gene genauso überlebenswichtig wie alte

Das Ergebnis war überraschend: Von den 195 Genen erwiesen sich 59 – das entspricht 30 Prozent – als lebenswichtig. Wurden sie blockiert, starben die Fliegen noch während ihrer Entwicklung ab. Damit entsprach der Anteil der essenziellen Gene unter den „Neuentwicklungen“ dem bei den alten Genen gefundenen. Hier führten 85 von 245 Genblockaden – 35 Prozent – zum Tod der Tiere.

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„Neue Gene sind nicht mehr nur die Garnierung, genauso wahrscheinlich können sie jetzt auch Basis ein. Wir waren schockiert“, erklärt Long. „Ein neues Gen ist offenbar genauso essenziell wie jedes andere Gen auch, die Bedeutung eines Gens ist von seinem Alter unabhängig.“ Sein Kollege Sidi Chen ergänzt: „Das ist wie das sich Verlieben: Man verliebt sich in jemanden und dann kann man plötzlich nicht mehr ohne ihn.“

Verschiedene Rollen in der Embryonalentwicklung

Doch es gab auch wichtige Unterschiede zwischen altem und neuem Erbgut: Viele Blockaden alter Gene führten zu einem Absterben der Tiere in einem sehr frühen Entwicklungsstadium, während Blockaden neuer Gene sich oft erst in mittleren oder späten Stadien auswirkten. Die alte Vorstellung, dass die Embryonalentwicklung die Stammesentwicklung gewissermaßen im Schnelldurchlauf nachvollzieht und bei allen Tieren prinzipiell auf ähnlichen genetischen Mechanismen beruht, ist demnach falsch.

„Das könnte unsere Sicht auf die Embryonalentwicklung komplett verändern“, so Long. „Jede Art hat ein unterschiedliches, artspezifisches Entwicklungsprogramm, das von der natürlichen Selektion geprägt wurde. Wir können nicht länger sagen, dass von Drosophila bis zum Menschen immer das gleiche Programmhinter der Entwicklung steht. Die Geschichte ist damit viel komplizierter als gedacht.“

Bedeutung für gängige Forschung an Tiermodellen

Damit muss auch die gängige Praxis der Modellorganismen neu überdacht werden, in der vor allem Fliegen, Ratten und Mäuse zur Erforschung grundlegender Prozesse des Menschen eingesetzt werden, beispielsweise Mechanismen der Krankheitsentstehung. „Ich glaube, dass dies auch große Bedeutung für die Medizin hat“, so Chen. „Tiermodelle haben sich als sehr nützlich und wichtig erwiesen um menschliche Krankheiten zu verstehen. Aber wenn unsere Intuition korrekt ist, versteckt sich wichtige Information über Krankheitsprozesse des Menschen in Teilen des Genoms, die den Menschen einzigartig machen.“

(University of Chicago Medical Center, 27.12.2010 – NPO)

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