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Biologie

Beißender Wurm enthüllt „Zweitnutzung“ der Natur

Signalkette mit mehreren Funktionen erlaubt optimale Anpassung an Umweltbedingungen

Der Fadenwurm Pristionchus pacificus hat den kleineren C. elegans an der Seite aufgerissen und frisst den auslaufenden Inhalt. © MPI für Entwicklungsbiologie

An den Mundwerkzeugen eines räuberischen Fadenwurms haben Biologen wichtige Grundprinzipen der Evolution nachverfolgt. Denn sie entdeckten, dass der für ihre Ausprägung zuständige Signalweg quasi zweitverwertet wurde: Er ist eigentlich für andere umweltspezifische Anpassungen verantwortlich. Wie sie in „Nature“ berichten, entscheiden Zeitpunkt und Konzentration bestwimmter Auslöser darüber, welche ihrer Funktionen die Signalkette gerade umsetzt.

Unter Ralf Sommers Mikroskop spielen sich dramatische Szenen ab: Sein Forschungsobjekt, der Fadenwurm Pristionchus pacificus, verbeißt sich in einen anderen Wurm, reißt ein Loch in dessen Flanke und labt sich anschließend am ausfließenden Inhalt. Das sich windende Opfer hat in diesem Zweikampf keine Chance: Caenorhabditis elegans ist zwar ein naher Verwandter von Pristionchus, aber nicht mit denselben kräftigen „Zähnen“ ausgestattet. Im Fokus der Biologen vom Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie steht jedoch nicht die Jagdtechnik von Pristionchus, sondern die Entwicklung seiner Mundwerkzeuge.

Umwelt enscheidet über Form der Mundwerkzeuge

Gilberto Bento und Akira Ogawa aus Sommers Team haben jetzt den Steuerungsmechanismus entdeckt, der hinter der Mundentwicklung steckt: Wächst der Wurm mit reichlich Bakterien als Nahrung auf, so hat er später nur sehr kleine Zähne in einer schmalen Mundhöhle. Erlebt er als Larve jedoch Nahrungsmangel oder eine hohe Populationsdichte, so entwickelt er einen breiten, mit kräftigen zahnartigen Dentikeln ausgestatteten Mund. Breit- und schmalmundige Individuen unterscheiden sich genetisch nicht voneinander. „Vielmehr bestimmen Umweltfaktoren darüber, welche Mundwerkzeuge ein Fadenwurm ausbildet“, erklärt Ralf Sommer, Direktor der Abteilung Evolutionsbiologie am Tübinger Max-Planck-Institut.

Der nur einen Millimeter große Fadenwurm Pristionchus pacificus ist ein beliebter Modellorganismus in der Biologie © MPI für Entwicklungsbiologie

Signalweg „zweitverwertet“

Den gleichen Effekt wie ein Nahrungsmangel hat, wie die Forscher feststellten, auch ein Pheromon der Würmer. Es signalisiert eine hohe Populationsdichte, wenn es in hohen Konzentrationen vorhanden ist. In beiden Fällen – bei Nahrungsmangel und bei einer Überbevölkerung – wird ein körpereigener Signalweg aktiviert, der zur Entwicklung von kräftigen Zähnen führt und damit ein räuberisches Verhalten ermöglicht. Der Signalweg ist den Forschern bereits bekannt: Das Hormon Dafachronic Acid und sein Rezeptor sorgen auch dafür, dass sich die Würmer in Mangelzeiten nicht zu erwachsenen Individuen weiterentwickeln, sondern in einem Dauerlarvenstadium verharren, bis sich die Umweltbedingungen wieder bessern.

Evolution ist sparsam

„Der Mund-Dimorphismus von Pristionchus veranschaulicht gleich zwei faszinierende Prinzipien der Evolution“, sagt Sommer. Zum einen zeigt er, wie sparsam die Evolution arbeitet: Bereits etablierte Signalwege werden in neuem Kontext wiederverwendet – ein Vorgang, den Biologen als Co-Option bezeichnen. Um eine Signalkette mit neuer Bedeutung zu belegen, genügt es, sie zu einem anderen Zeitpunkt oder mit einer anderen Konzentration des auslösenden Signalmoleküls anzustoßen, wie in diesem Fall. Zum anderen gilt die Existenz alternativer Körperstrukturen als Wegbereiter der Evolution: „Um die Mundstruktur dauerhaft zu verändern, müsste die genetische Steuerung lediglich von der Umweltabhängigkeit abgekoppelt werden“, erläutert Sommer.

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Darüber, ob sich die kräftigere Mundform von Pristionchus besser zur Jagd auf andere Würmer oder zum Verzehr von Pilzen eignet, können die Tübinger Biologen bislang nur spekulieren. „Die Tatsache, dass sich der Mund-Dimorphismus im Verlauf der Evolution fest etabliert hat, lässt darauf schließen, dass er in freier Natur einen wichtigen Vorteil bietet“, sagt Sommer.

(Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, 01.07.2010 – NPO)

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