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Biologie

Raupenfraß macht Tabakpflanzen zu „Frühaufstehern“

Botenstoff im Speichel pflanzenfressender Insekten verschiebt Blühzeitpunkt von Wirtspflanzen

Der in Nordamerika heimische Wilde Tabak blüht nachts und lockt mit dem Duftstoff Benzylazeton nachtaktive Motten als Bestäuber an. Sobald aber die Mottenweibchen ihre Eier auf den grünen Blättern ablegen, verschiebt die Pflanze den Blühzeitpunkt um 12 Stunden in die Morgendämmerung und stellt außerdem die Duftproduktion der Blüten ein. © Danny Keßler

Ein chemischer Botenstoff im Speichel pflanzenfressender Motten sorgt dafür, dass sich die Blüten befallener Tabakpflanzen nicht mehr abends sondern erst in den Morgenstunden öffnen. Die so genannten „morning-opening flowers“ (MoF) locken dadurch statt der nachtaktiven Motten tagaktive Kolibris an, die ebenso eine Pollenübertragung bewerkstelligen, ohne dabei der Pflanze selbst zu Leibe zu rücken, berichten die Forscher in der Fachzeitschrift „Current Biology“.

Zahlreiche Pflanzenarten werben mit den Farben und Formen ihrer Blüten sowie dem Nektar und Duftstoffen um Schmetterlinge und Motten, die für die Bestäubung und damit die Fortpflanzung sorgen sollen. Weibliche Motten jedoch sind eine große Gefahr für die Pflanze: Einmal angezogen durch den Duft der Blüten, legen sie auf den grünen Blättern ihre Eier ab, aus denen alsbald gefräßige junge Raupen schlüpfen.

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena haben jetzt beobachtet, wie Tabakpflanzen diesem Dilemma erfolgreich begegnen. Im Verlauf von Freilanduntersuchungen im Great Basin Desert von Utah, USA, hatten Forscher der Abteilung Molekulare Ökologie um Ian Baldwin bereits im Sommer 2007 ein unerwartet massives Auftreten von Raupen des Tomatenschwärmers Manduca quinquemaculata registriert. Fast jede Tabakpflanze der dort heimischen Art Nicotiana attenuata war am Versuchsstandort von diesen Nachtschattenpflanzen bevorzugenden Schädlingen befallen.

Blühzeitpunkt verschoben

Danny Kessler widmete sich in der neuen Studie den attackierten Pflanzen genauer und bemerkte, dass diese im Gegensatz zu nicht befallenen Pflanzen viele Blütenknospen aufwiesen, die sich erst nach Sonnenaufgang öffneten – typischerweise ist der Tabak aber nachtblühend und öffnet die Knospen nach Sonnenuntergang. Dies führte zu Experimenten in den beiden folgenden Jahren, die zeigten, dass der um etwa zwölf Stunden verschobene Blühzeitpunkt in direktem Zusammenhang mit dem Raupenbefall stand.

Schon früher hatten die Ökologen festgestellt, dass zum Zwecke der Bestäubung angelockte Mottenweibchen gleichzeitig auch ihre Eier auf derselben Pflanze ablegten, aus denen dann blattfressende Raupen schlüpften. Die Wissenschaftler rätselten, warum sich Pflanzen offenbar einem solchen lebensbedrohlichen Nachteil nur um der Bestäubung willen unterwerfen. Sie widmeten sich daher den auffallenden MoF, die erst nach Insektenfraß vermehrt von den Pflanzen gebildet wurden, und verglichen diese mit den normalerweise auftretenden „night-opening flowers“ (NoF).

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Bereits das erste Experiment brachte nach Angaben der Wissenschaftler ein verblüffendes Ergebnis: Die MoF gaben nicht mehr den Motten anlockenden Duftstoff Benzylazeton ab und auch der Zuckergehalt des Blütennektars war deutlich geringer. Außerdem war auffallend, dass die Blütenblätter der MoF sich nur um ein Drittel der Größe der NoF öffneten. Insgesamt wurden die MoF für Motten unsichtbar – jedoch vielleicht interessant für andere Bestäuber, die nahe der Freilandstation leben: Kolibris.

Tabakpflanzen, die in der Morgendämmerung blühen, werden von Kolibris bestäubt. © Danny Keßler

Kolibris als Bestäuber

Um zu prüfen, welcher der beiden Bestäuber Pollen überträgt, haben die Wissenschaftler in Freiland-Experimenten den Auskreuzungserfolg von Motten- oder Kolibri besuchten Pflanzen bestimmt. Dazu wurden zuerst aus jungen Blütenknospen die Staubfäden entfernt, um Selbstbefruchtung auszuschließen. Dann deckten die Forscher eine nicht von Raupen attackierte und eine befallene Tabakpflanze mit einem netzumspannten Drahtkäfig bis zum Morgen des nächsten Tags zu, um nachaktive Bestäuber auszuschließen.

Ein zweites solches Paar blieb über die Nacht unverdeckt und war so nachtaktiven Bestäubern zugänglich. Noch vor der Morgendämmerung wurden die Käfige getauscht, sodass die nachts unverdeckten Pflanzen nun tagsüber verdeckt waren und die des Nachts zugedeckten Pflanzen am Tage für Bestäuber zugänglich wurden. Am Abend setzten die Wissenschaftler die Käfige auf alle Versuchspflanzen und sie blieben zugedeckt bis zur Bildung von Samenkapseln an den Blüten.

Das nachfolgende Auszählen ergab, dass bei den nicht von Raupen befallenen Tabakpflanzen die signifikante Mehrheit der Samenkapseln von den nachts zwischen 20:00 und 6:00 Uhr bestäubten Blüten stammte, während bei den von Raupen angefressenen Pflanzen eine erfolgreiche Bestäubung mehrheitlich am Tage zwischen 6:00 und 20:00 Uhr stattgefunden hatte, demnach durch Kolibris.

Wählerische Vögel

Die direkte Überprüfung, ob Kolibris tatsächlich speziell die MoF anfliegen und deren Nektar trinken, erfolgte durch Beobachten und Auszählen in einem Bestand von über 1.000 blühenden Tabakpflanzen. Achtzehn Visitationen wurden ausgewertet, in denen Kolibris raupenbefallene Pflanzen anflogen.

Tatsächlich bevorzugten die Vögel nach den Ergebnissen der Wissenschaftler zu mehr als 90 Prozent die MoF verglichen mit den NoF, selbst wenn nur wenige MoF an der Pflanze vorhanden waren. „Wahrscheinlich können die Kolibris die spezielle Form der nicht vollständig geöffneten MoF Blütenkrone erkennen und assoziieren dies mit der bewährten Qualität und zufrieden stellenden Menge des Nektars in diesen Blüten“, so Celia Diezel, Mitautorin der Studie.

Versuche mit Raupenspeichel und transgenen Pflanzen

In weiteren Experimenten überprüften die Forscher dann, wie die attackierten Pflanzen den Raupenfraß „bemerken“ und das Entwicklungsprogramm der Blüten zugunsten der Kolibris verändern. Statt junge Raupen auf die Blätter der Pflanzen zu setzen, verwundeten die Forscher dabei ein Blatt durch kleine Einstiche und verteilten darauf Speichel von Schwärmerraupen.

Ebenso wie nach direktem Raupenbiss bildeten sich nach etwa drei Tagen auch hier vermehrt die morning-opening flowers, verglichen mit nicht-induzierten Pflanzen. „Es könnte sich vielleicht um die im Speichel vorhandenen Fettsäure-Aminosäure-Konjugate handeln, von denen wir bereits wissen, dass sie die Abwehr der Pflanzen gegen Raupenfraß anschalten, beispielsweise durch die Bildung von Gift gegen den Angreifer“, so Kessler.

In einem zusätzlichen Experiment verwendete er gentechnisch veränderten Tabak, in dem die Signalkette zwischen dem Speichelbotenstoff und der Abwehrreaktion unterbrochen ist, weil diese Pflanzen kein Jasmonat mehr bilden können. Jasmonat ist ein Pflanzenhormon, das im Blattgewebe Raupenfraß signalisiert. Tatsächlich bildeten die Pflanzen ohne Jasmonat trotz Raupenspeichel keine MoF, bildeten diese aber, wenn auf die Blätter Jasmonat-Lösung gesprüht wurde. Dieses Experiment zeigte nach Angaben der Forscher, dass die Umprogrammierung der Blütenbildung über die gleiche Signalkaskade erfolgt wie das Anschalten der Verteidigungsmechanismen gegen Raupen.

Motten mit dem besseren Bestäuber-Service

Warum riskieren die Pflanzen aber das Anlocken des Tomatenschwärmers als Bestäuber, obwohl dessen Raupen gleichzeitig an der Pflanze fressen? „Diese Frage lässt sich nicht aus dem Blickwinkel einer einzelnen Pflanze beantworten, sondern nur vor einem evolutionsbiologisch-ökologischen Hintergrund“, so Baldwin. Wilder Tabak besiedelt nach Bränden sehr große Flächen, vergleichbar mit einer synchronisierten Monokultur mit tausenden, weit verbreiteten Pflanzen. Kolibris stellen somit vielleicht nicht den zuverlässigen Bestäuber-Service dar, den die Pflanzen für Kreuzungsvarianten und Fortpflanzung brauchen.

Die Pflanzen können die Motten durch die Duftabgabe der Blüten über sehr weite Strecken anlocken, während Kolibris nur verfügbar sind, wenn sie ihre Nester zufälligerweise in unmittelbarer Nähe der Tabakpopulation haben. Außerdem werden durch Kolibris Blüten eher mit dem Pollen ein und derselben Pflanze bestäubt als mit dem Pollen von anderen Pflanzen, so die Forscher. Dies könnte die genetische Variabilität der gebildeten Samen verringern. Motten jedoch scheinen reiselustiger zu sein, besuchen viele verschiedene Pflanzen und ermöglichen so vielleicht eine größere genetische Variabilität der Samen.

(MPG, 25.01.2010 – DLO)

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