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Geowissen

Erdbebenforscher: Haiti war „Worst-Case“

Extrem komplexe Tektonik macht Karibikregion zum Pulverfass

Erdbebenforscher Jian Lin © Tom Kleindinst / Woods Hole Oceanographic Institution

Die schlimmen Auswirkungen des Erdbebens von Haiti sind die Folge des Zusammentreffens gleich mehrerer ungünstiger Faktoren. Das berichten jetzt amerikanische Erdbebenforscher. Das resultierende „Worst-Case-Scenario“ sei ein Weckruf für die gesamte Karibik, die gleichermaßen durch die extrem aktive und komplexe Tektonik der Region gefährdet sei.

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Das Erdbeben von Haiti stellt sowohl in geologischer als auch in humanitärer Sicht ein „Worst-Case-Scenario“ dar. Das haben jetzt Wissenschaftler um den Erdbebenforscher Jian Lin von der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI). Das Beben der Stärke 7.0 ereignete sich in einer Zone extrem komplexer geologischer Störungen nahe der Grenze zwischen der Karibischen und der Nordamerikanischen Krustenplatte. Denn hier treffen nicht nur die beiden großen Platten aufeinander, zwischen ihnen liegt auch ein weiter Bereich, in dem die Erdkruste in mehrere kleinere Plattenstücke zerbrochen ist.

Fatales „Flickwerk“

„Dieses Flickwerk aus kleineren ‚Blockadeplatten‘ macht es extrem schwierig, die Kräfte im Untergrund und ihre Wechselwirkungen abzuschätzen“, erklärt Lin, der seit Jahren die Geologie der Region erforscht. „Wer in angrenzenden Gebieten wie der Dominikanischen Republik, Jamaika oder Puerto Rico lebt, ist geradezu von Verwerfungen umzingelt.“

Hier stauen sich über Jahre und Jahrhunderte Spannungen im Untergrund auf, ausgelöst durch die Ostwanderung der Karibischen Platte und der Westwanderung einer kleineren tektonischen Einheit, der Gonwave-Platte. Das verhakte Gestein entlang der Grenze kann der Plattenbewegung nicht folgen und Druck baut sich auf, bis schließlich das Gestein bricht und sich die Spannung in einem Beben entlädt. Beim jetzigen Beben betroffen war ein 50 bis 60 Kilometer langer Bereich entlang der Enriquillo-Plantain Garden Verwerfung, die sich von der Dominikanischen Republik im Osten über Haiti bis nach Jamaika im Westen erstreckt.

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Flachbeben besonders verheerend

Drei Faktoren machten nach Ansicht von Lin die Auswirkungen des Bebens so verheerend: Zum einen ereignete es sich nur 15 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Port-au-Prince, zum zweiten lag der Erdbebenherd nur rund zehn bis 15 Kilometer unter der Oberfläche. Flache Beben wie dieses richten meist besonders große Zerstörungen an. Und zum dritten waren Infrastruktur und Gebäude in diesem armen Land nicht darauf ausgelegt, solchen Kräften zu widerstehen. Immerhin eine Folge blieb den Bewohnern der Karibik erspart: Weil sich das Epizentrum an Land und nicht im Meer befand, lösten die Erdstöße keinen Tsunami aus.

Karibik-Störungen noch immer aktiv

Das allerdings bedeutet noch keine Entwarnung, so Lin. Noch für Tage, Wochen, Monate, ja sogar Jahre und Jahrzehnte, seien Nachbeben zu erwarten. Zwar werde sich genau an dieser Stelle der Verwerfung die nächsten hundert Jahre kein Beben vergleichbarer Stärke ereignen, doch die gesamte Region sei zurzeit äußerst aktiv. Neun Zehntel dieser Störung und das ganze Netzwerk der tektonischen Verwerfungen in der Karibik sei noch immer „geladen“. „Das sollte ein Weckruf für die gesamte Karibik sein“, so der Forscher.

Rot: betroffener Bereich der Enriquillo-Plantain Garden Verwerfung inmitten des komplexen Netzwerks von tektonischen Störungen rund um die Insel © Woods Hole Oceanographic Institution

Zwei Minuten Handlungsfrist

Wegen der großen Armut der Bewohner dieser Region seien bauliche und infrastrukturelle Anpassungen nicht immer möglich, doch richtiges Verhalten im Katastrophenfall könne zumindest einige der Opfer vermeiden helfen. „Die Antwort liegt in grundlegender Erdbebenschulung“, so der Wissenschaftler. So seien die zerstörerischsten S-Wellen eines Bebens ein wenig langsamer als die schnelleren aber schwächeren Primärwellen. Normalerweise bleibt daher eine kurze Frist von rund ein bis zwei Minuten nach Eintreffen der ersten Wellen, in der sich die Bewohner zumindest ein wenig schützen könnten.

„So könnte man beispielsweise sicherstellen, dass es einen stabilen Tisch irgendwo im Haus oder in der Schule gibt. Wenn die ersten Wellen kommen, ducken Sie sich schnell unter diesen Tisch“, so Lin. Schon diese einfache Maßnahme kann Leben retten. „viele Menschen vergessen Erdbeben schnell wieder und nehmen die Warnungen der Geologen nicht ernst“, erklärt der Forscher. „Aber wenn ihr Haus nahe einer aktiven Verwerfung steht, sollten Sie das nicht vergessen.“

Unser Special zum Erdbeben in Haiti finden Sie hier

(Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI), 15.01.2010 – NPO)

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