Mit ihrem Seitenlinienorgan können Fische auch im Dunklen Feinde orten, Beute finden und ihre Umgebung anhand winzigster Druckveränderungen erspüren. Jetzt haben Physiker das Funktionsprinzip dieses Organs mit Hilfe mathematischer Modelle ergründet und den ersten Schritt zu einer technischen Nachbildung geschafft. Das Magazin „Nature“ stellt ihre Ergebnisse in der aktuellen Ausgabe als „Research Highlight“ vor.
Selbst in trüben Gewässern, in die kaum mehr Licht eindringt, erspüren Hechte und Zander ihre Opfer, noch bevor sie diese tatsächlich berühren. Der blinde mexikanische Höhlenfisch weicht mühelos Hindernissen aus und kann Strukturen seiner Umgebung erahnen. Welse verfolgen auf der Jagd eine unsichtbare Fährte, die sie direkt zu ihrer Beute führt. Das geheimnisvolle Organ, das sie dabei leitet, ist das Seitenliniensystem, das Strömungsänderungen registriert und so besonders im Dunklen oder in trübem Wasser den Sehsinn unterstützt.
Winzige Druckveränderungen als Informationsquelle
Dieser auf den ersten Blick mysteriöse Fern-Tastsinn beruht auf einer Messung der Druckverteilung und des Geschwindigkeitsfeldes im umgebenden Wasser. Die dafür zuständigen Seitenlinienorgane ziehen sich links und rechts am Fischkörper entlang und umgeben zusätzlich Augen und Maul. Sie bestehen aus gallertartigen, biegsamen Fähnchen, die etwa einen Zehntel Millimeter messen,
so genannten Neuromasten. Diese sitzen entweder direkt auf der Oberfläche der Tiere oder in Kanälen
dicht unter ihrer Haut, in die über Poren Wasser eindringt. Sensibel folgen die Fähnchen und die an sie gekoppelten Haarsinneszellen bereits kleinsten Wasserbewegungen. Nerven leiten die Signale weiter zur zentralen Verarbeitung im Gehirn, das mögliche Quellen der Strömungsänderungen lokalisiert und identifiziert.
Diese Änderungen können auf unterschiedliche Weise entstehen: Ein vorbei schwimmender Fisch erzeugt Schwingungen, die direkt auf das Organ übertragen werden. Darüber erkennen Schwarmfische einen nahenden Angreifer und synchronisieren ihre Schwimmbewegungen so, dass sie einem einzigen großen Organismus gleichen. Der mexikanische Höhlenfisch schiebt hingegen eine regelrechte Bugwelle vor sich her, die von Hindernissen zurück geworfen wird. Der Wels wiederum nutzt die Tatsache aus, dass ein schwimmender Beutefisch, der mit seiner Schwanzflosse schlägt, eine Spur aus Wasserstrudeln hinterlässt, eine so genannte Wirbelstraße, die über eine Minute lang bestehen bleibt und ihn verraten kann.
Professor Leo van Hemmen und sein Team am Physik- Department der Technischen Universität München (TUM) erforschen seit fünf Jahren die Leistungen des Seitenliniensystems und ermitteln sein Potential für eine mögliche technische Umsetzung. Wie weit ist die Reichweite eines solchen Sinnesorgans und welche Auskunft kann es über bewegte Objekte geben? Welche Stimuli erhalten die Seitenlinien aus dem Wassersog eines anderen Fisches und wie werden diese
verarbeitet? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, erstellen die Wissenschaftler mathematische Modelle und vergleichen diese mit experimentellen Daten aus Seitenlinienorganen von Krallenfröschen oder Höhlenfischen.
Modelle ahmen natürliche Funktion nach
Die Untersuchungen zeigten, dass jeder Fisch eindeutige und differenzierte Informationen über sich selbst in das Strömungsfeld überträgt. Dadurch kann er in einem Umkreis, dessen Radius seiner eigenen Körperlänge entspricht, auch andere Fische verlässlich orten. So kann ein Raubfisch dank der Informationen über Größe und Gestalt eines Beutefisches entscheiden, ob sich eine Verfolgung
lohnt oder nicht. Gleichzeitig kann so auch der Beutefisch zwischen Artgenossen und Räubern
unterscheiden.
Mit einer weiteren von den Wissenschaftlern entwickelten Formel berechneten sie aus den Signalen, die ein Seitenliniensystem erhält, den Winkel zwischen Fischachse und einer Wirbelstraße – und das auf einem Leistungsniveau, das dem des Nervensystems der Fische entspricht. Erstaunlich genau stimmen die rechnerischen ermittelten Werte für die Nervensignale am Sinnesorgan der Tiere mit den tatsächlich gemessenen elektrischen Impulsen aus der Ableitung von Nervenzellen überein.
Roboter und U-Boote mit Seitenlinien-Sinn
Die Forscher erhoffen sich von diesen Erkenntnissen vor allem Anregungen für die Robotik, den Einsatz solcher Systeme auch im technischen Bereich. Mit einem nachgebauten Seitenliniensystem, das in Luft näherungsweise ebenso gut funktioniert wie unter Wasser, könnten sich beispielsweise Roboter in Menschenmengen bewegen, ohne anzuecken.
Aber auch im Wasser bietet das System viel versprechende Anwendungen: Unterwasserroboter könnten sich bei der Erforschung von unzugänglichen Höhlensystemen und Tiefseevulkanen orientieren, Tauchboote auch in trüben Gewässern Hindernisse orten. Ein solches Unterwasserfahrzeug wird zurzeit im Rahmen des EU-Projektes „CILIA“ in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Steuerungs- und Regelungstechnik entwickelt.
(Technische Universität München, 28.08.2009 – NPO)