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Medizin

Erbkrankheit tarnt sich als vorgeburtliche Infektion

Mutation im RNASET2-Gen löst schwere Schäden des kindlichen Gehirns aus

Charakteristisches Muster von Veränderungen bei Patienten mit RNASET2-defizienter zystischer Leukoenzephalopathie in den Aufnahmen des Gehirns mittels Kernspintomographie (MRT) oder Computertomographie (CT). Die Pfeile markieren die beidseitigen zystischen Veränderungen der vorderen Schläfenlappen. © Universitätsmedizin Göttingen

Bisher galten Säuglinge, die mit zu kleinem Kopf, Epilepsie und Behinderungen geboren wurden als Opfer einer vorgeburtlichen Virusinfektion. Doch jetzt haben Wissenschaftler entdeckt, dass zumindest bei einem Teil der Fälle keine Infektion, sondern eine Mutation eines Gens für die Schäden verantwortlich ist. Sie stellen ihre Erkenntnisse über die zuvor komplett unbekannte Erbkrankheit jetzt in „Nature Genetics“ vor.

Es gibt Infektionskrankheiten, die sich auch auf das sich entwickelnde Kind im Mutterleib auswirken. Das heißt dann: zu klein der Kopf, die geistige und motorische Entwicklung verzögert, Störungen beim Hören und Sehen sowie Epilepsie. Häufig kann dafür eine Virusinfektion während der Schwangerschaft der Mutter verantwortlich gemacht werden. Die Diagnose lautet dann: „angeborene Cytomegalovirus (CMV)-Infektion“. Sie gilt als weltweit häufigste angeborene Virusinfektion. Ursache für die gleichen Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung kann aber auch ein erblicher Gendefekt sein, wie jetzt ein Göttinger Forscherteam herausfand.

Forscher aus dem Bereich Neuropädiatrie der Universitätsmedizin Göttingen identifizierten in Zusammenarbeit mit dem Transkriptomanalyselabor der Universitätsmedizin Göttingen erstmals ein primär defektes Gen, das eine Erkrankung herbeiführt, die einer angeborenen CMV-Infektion des Gehirns ähnelt: das RNASET2-Gen.

Gen auf Chromosom 6 mutiert

Zunächst führten die Wissenschaftler eine das gesamte Erbgut umfassende Kopplungsanalyse an zwei verwandten Familien mit mehreren von der Erkrankung betroffenen Kindern durch. Auf diese Weise konnten sie den Krankheitsort, den so genannten „Krankheitslokus“ auf dem menschlichen Chromosom 6 identifizieren. In aufwändigen weiteren Analysen, darunter der Sequenzierung von Kandidatengenen sowie Transkriptomanalysen, konnten die Forscher schließlich bei den vier betroffenen Kindern der beiden untersuchten Familien und auch bei weiteren Patienten aus nicht blutsverwandten Familien Mutationen im RNASET2-Gen nachweisen. Damit identifizierten sie erstmals ein Gen, das diese CMV-ähnliche Erkrankung verursacht.

Krankheitsbild nicht von Folgen einer Virusinfektion unterscheidbar

Bei Aufnahmen des Gehirns mit Hilfe der Kernspintomografie zeigen sich bei Kindern mit angeborener CMV-Infektion charakteristische Muster von Hirngewebsveränderungen. „Diese Muster finden sich genauso auch bei Kindern, die den neu beschriebenen spezifischen Gendefekt geerbt haben. Bisherige Diagnosemethoden wie Kernspintomografie reichen nicht aus, um die Ursachen für kindliche Entwicklungsstörungen genau zu bestimmen“, erklärt der Erstautor der Publikation, Marco Henneke, Spezialist für Neuropädiatrie der Universitätsmedizin Göttingen. „Der erbliche Defekt im RNASET2-Gen führt zu einer Erkrankung, die genauso aussieht wie die schon lange bekannte angeborene Virusinfektion des Gehirns.“

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Normale Funktion des Proteins nicht geklärt

Die Forscher tauften die Erkrankung wegen des zugrunde liegenden Gendefekts und der blasenartigen, so genannten zystischen Veränderungen des Gehirns „RNASET2-defiziente zystische Leukoenzephalopathie“. Über die Funktion des RNASET2-Proteins ist bisher noch sehr wenig bekannt. Insbesondere seine Bedeutung für die Entwicklung des Gehirns und die Funktion des zentralen Nervensystems ist unklar.

„Eine Rolle im RNA-Stoffwechsel der Zelle, dessen Bedeutung kürzlich auch für andere Hirnerkrankungen erkannt wurde, ist jedoch wahrscheinlich“, erklärt Jutta Gärtner, Professorin für Pädiatrie. „Wir nehmen auch an, dass es Gemeinsamkeiten im Enstehungsmechanismus der durch eine erworbene Infektion und der durch einen ererbten Gendefekt herbeigeführten Erkrankung gibt. Wir suchen daher jetzt weiter nach einem Grund, warum die angeborene CMV-Infektion des Gehirns und die erbliche ‚RNASET2-defiziente zystische Leukoenzephalopathie‘ die gleichen klinischen Symptome und die gleichen Hirnveränderungen bei Kindern hervorrufen können.“

Die Entdeckung des Gendefekts gelang durch umfangreiche molekulargenetische Arbeiten in Kooperation mit Professor Peter Nürnberg vom Cologne Center for Genomics der Universität Köln sowie weiteren in- und ausländischen Wissenschaftlern. Über weitere grundlagenwissenschaftliche Untersuchungen wollen die Göttinger Forscher nun im Detail die Krankheitsmechanismen der „RNASET2-defizienten zystischen Leukoenzephalopathie“ mit Hilfe von Zell- und Mausmodellen besser verstehen und klären. Denn nur auf diese Weise können zukünftige Therapiemöglichkeiten für die betroffenen Kinder entwickelt werden.

(Universitätsmedizin Göttingen, 27.08.2009 – NPO)

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