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Phänomene

Was „sehen“ Blindseher?

Kein Bild, aber Formen und Gefühle

Das Phänomen des „Blindsehens“ ist nicht neu: Schon 1917 berichteten einige Mediziner von Soldaten, die durch Kopfverletzungen im Ersten Weltkrieg Teile ihrer Sehrinde verloren hatten. Dennoch reagierten diese blinden oder teilweise blinden Soldaten beispielsweise auf Lichtblitze, indem sich ihre Pupillen zusammenzogen. Bei einigen folgten die Augen einem hellen Lichtpunkt, obwohl die Patienten angaben, absolut nichts zu sehen. Das Ganze wurde damals in der Fachwelt als Kuriosum abgetan und nicht weiter beachtet – auch weil es einfach zu wenige Patienten gab, die dieses Verhalten zeigten.

Auch bei Makaken, hier ein junger Rhesusaffe, lässt sich Blindsehen nachweisen. © Farazkhan007/CC-by-sa 3.0

Blitze, Formen und Größen

Erst seit den 1970er Jahren wird dieses Phänomen systematischer erforscht – größtenteils an Makaken, teilweise aber auch durch Untersuchungen mit menschlichen Patienten. Und diese brachten teilweise Erstaunliches zutage. So können Affen auch ohne primäre Sehrinde lernen, Helligkeiten, einfache Formen und die Richtung von Balken zu unterscheiden. Auch Bewegungen scheinen sie wahrnehmen zu können.

In einem weiteren Experiment zeigten Forscher einem jungen Mädchen mit einseitig zerstörter primärer Sehrinde verschieden große Objekte auf ihrer blinden Seite. Sie baten sie dann, mit ihrer Hand langsam nach diesem Objekt zu greifen. Für das Mädchen war das Objekt unsichtbar, auf ihrer blinden Seite hatte sie keine Chance, es zu sehen. Daher griff sie scheinbar aufs Geradewohl drauflos – und passte dabei seltsamerweise die Greifrichtung und die Öffnung ihrer Hand optimal an das Objekt an. Ihr selbst aber war diese Reaktion nicht bewusst, direkt gefragt, sagte sie immer, sie habe nichts gesehen oder sonstwie wahrgenommen.

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Gefühle – blind erahnt

Noch faszinierender ist ein Versuch, den Beatrice de Gelder mit zwei „Blindsehern“ in den 1990er Jahren durchführte. Dabei zeigte sie den Probanden Videofilme von Gesichtern mit unterschiedlichen Gefühlsausdrücken – mal traurig, mal lachend oder überrascht. „Normalerweise gelten Gesichter als visuell sehr komplex – und daher weitaus schwerer zu verarbeiten als einfache Formen“, erklärt de Gelder. Andererseits aber ist gerade das Erkennen von Emotionen eine sehr grundlegende, tief in unserem Wesen verankerte Fähigkeit. Und tatsächlich: Als die Probanden raten sollten, welche Emotion gerade im Video gezeigt wurde, lagen sie überraschend oft richtig – zu oft, als dass es bloßer Zufall sei konnte.

In einem weiteren Versuch ging de Gelder dieser „blinden“ Wahrnehmung von Gefühlen näher auf den Grund. Dafür nutzte sie das Phänomen der emotionalen Ansteckung: Wir neigen dazu, unseren eigenen Gesichtsausdruck unbewusst an den unseres Gegenübers anzupassen. Ist dieser traurig, ziehen auch wir unwillkürlich ein wenig die Mundwinkel herunter. Nicht immer ist diese Reaktion deutlich genug, um sichtbar zu werden, sie lässt sich aber an den feinen elektrischen Signalen der Gesichtsmuskeln messen.

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Ein fröhliches Gesicht in der blinden Sehfeldhälfte - reagiert der Proband darauf? © de Gelder et al.

Unwillkürliche Muskelreaktion

Diese Technik setzten die Forscher nun auch bei den beiden Blindsehern ein: Sie zeigten ihnen Fotos von Portraits und Ganzkörperbilder von Menschen, die unterschiedliche Gefühle ausdrückten. Dabei maßen sie mittels Elektromyografie die Reaktionen der Gesichtsmuskeln der beiden Probanden. Und auch hier zeigte sich: Obwohl die Blindseher die Fotos nicht bewusst sahen, spiegelte ihr Gesicht die dargestellte Emotion wider. Beim Anblick besonders verängstigter Personen weitete sich zusätzlich ihre Pupille – ein Zeichen starker Gefühle.

Diese Experimente zeigen, dass „Blindseher“ durchaus visuelle Reize wahrnehmen – ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Denn die meisten von ihnen sind der festen Ansicht, nichts dergleichen wahrnehmen zu können. Dies geht sogar so weit, dass vielen von ihnen den Ergebnissen der Forscher nicht glauben wollen. Aber kann dieses Phänomen trotzdem real sein?

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Nadja Podbregar
Stand: 29.08.2014

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Blindsehen
Einem rätselhaften Wahrnehmungs-Phänomen auf der Spur

Der alte Mann und der Korridor
Wenn ein Blinder trotzdem "sieht"

Was "sehen" Blindseher?
Kein Bild, aber Formen und Gefühle

Alles nur Artefakte?
Wie real ist das Phänomen des Blindsehens?

Ein komplexes Gefüge
Wie unser Sehen normalerweise funktioniert

Wer ist der "Täter"?
Die Suche nach den Ursachen des Blindsehens im Gehirn

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