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Phänomene

Gefangen im Selbst

Autismus und Asperger-Syndrom

„Matt war schon immer anders als andere Kinder, von Geburt an. Er war sprunghaft, schlief nicht und war extrem penibel. Er reihte sein Spielzeug auf und machte Dinge in endlosen Wiederholungen“, erzählt Diane Savage, Mutter eines heute 16-jährigen autistischen Savants. Sie beschreibt damit einige der typischen Symptome autistischen Verhaltens.

Matt Savage: vom autistischen Kind zum Jazz-Star, hier bei einem Konzert im Jahr 2005 © Charles Haynes/CC-by-sa 2.5

Matt hatte, wie viele andere Autisten, schon als Kind zwanghafte Rituale, aß nur bestimmte Dinge und bewegte sich „seltsam“. „Unser Sohn spielte nicht mit anderen Kindern, er rannte vor jeder interaktiven Erfahrung davon“, so Diane Savage. „Jeder Ausflug endete in einem Anfall.“ Der Junge reagierte auf jede Überfrachtung mit Sinneseindrücken mit Panik und Rückzug und wehrte sich gegen jede Berührung. Matts Kinderarzt erkannte schnell, um was es sich handelte und diagnostizierte bei ihm eine Störung aus dem autistischen Spektrum.

Noch vor gut 60 Jahren allerdings wäre Matt Savage einfach als zurückgeblieben oder verrückt eingestuft worden und möglicherweise sogar in einem Heim gelandet. Denn erst 1940 erkannten zwei Forscher, der Kinderpsychiater Leo Kanner in Baltimore und der Kinderarzt Hans Asperger in Wien, durch eine halbe Erdkugel getrennt und trotzdem fast zeitgleich, diese Entwicklungsstörung als ein eigenes Syndrom. Sie tauften es „Autismus“ vom griechischen Begriff „autos“ für „selbst“ abgeleitet und charakterisierten die von ihnen untersuchten Kinder als gefangen in eigenen Welten, unfähig zum Kontakt mit der Außenwelt.

Ein Syndrom – viele Ausprägungen?

Kanner wertete den Autismus als Unterart der kindlichen Schizophrenie und bezog sich dabei vor allem auf Fälle mit schwerer geistiger Behinderung. Asperger dagegen sah das Phänomen eher als ein Kontinuum, eine Bandbreite autistischer Formen, die von durchaus aufgeweckten, intelligenten Menschen mit Schwierigkeiten in der Interaktion mit der Außenwelt bis hin zu völlig in sich eingeschlossenen, mental zurückgebliebenen Personen reichte.

Das austistische Spektrum © Ioannes Baptista/GFDL

Heute hat sich Aspergers Sichtweise in der medizinischen Welt weitestgehend durchgesetzt, viele Experten sprechen von Störungen des Autismus-Spektrums oder einer „Autistischen Entwicklungsstörung“ (PDD). Allerdings unterscheiden die offiziellen Diagnoseschlüssel trotzdem zwischen frühkindlichem Autismus, auch „Kanner-Syndrom“ genannt, und dem Asperger Syndrom, weil es doch einige Unterschiede gibt.

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So zeigen Kinder mit „Kanner-Autismus“ schon mit zehn bis zwölf Monaten erste Auffälligkeiten, sprechen meist wenig oder gar nicht und sind oft geistig behindert. Das Asperger-Syndrom manifestiert sich dagegen meist erst ab dem dritten Lebensjahr und ist oft von Störungen im Bewegungsablauf begleitet. Asperger-Kinder sind normal-, teilweise sogar hochintelligent und sprechen früh und viel, mit oft pedantischer Wortwahl.

Vom Asperger-Kind zum Jazz-Star

Auch Matt Savage, den die Ärzte eher als Asperger-Typ einstuften, war fasziniert von Wörtern und las schon mit 18 Monaten zwanghaft alles, was in seiner Reichweite war. Für seine Eltern war dies die entscheidende Chance, mit ihm in Verbindung zu treten und seine Entwicklung zu fördern. „Wenn etwas auf dem Papier geschrieben stand, brachte ihn seine Persönlichkeit dazu es zu lesen. Er konnte einfach nicht anders, er musste es lesen“, erzählt Matts Mutter. Mit sechs Jahren brachte sich Matt selbst das Klavierspielen bei und entdeckte damit eine für ihn völlig neue Welt und enthüllte seine außergewöhnliche musikalische Begabung.

Aus dem früher vor jedem lauten Geräusch zurückschreckenden, in zwanghaften Ritualen gefangenen Kind ist heute ein 16-jähriger Jazzmusiker mit eigener Band geworden, der als der „Mozart des Jazz“ gefeiert wird, auf allen renommierten Jazzfestivals in den USA und Kanada auftritt und mittlerweile sechs CDs aufgenommen hat. Selbst Interview-Situationen meistert er inzwischen – eine noch vor wenigen Jahren absolut undenkbare Interaktion mit der Außenwelt.

„Über die Jahre hinweg bin ich einer Reihe von Menschen mit Savant-Fähigkeiten begegnet, darunter auch einigen sehr erstaunlichen“, erklärt Savant-Experte Darold Treffert in seinem Portrait des Jungen. „Aber ab und zu explodiert ein neues Raketentalent und überschüttet uns mit einer einzigartigen spektakulären Fähigkeit in einer ohnehin schon außergewöhnlichen Situation. Matt Savage ist ein solches Raketentalent.“

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Nadja Podbregar
Stand: 12.12.2008

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Das Rätsel der Savants
Auf Spurensuche bei „Rain Mans“ Geschwistern

Savant-Portraits
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Ein Autist wird Ausnahmekünstler

Vom „Negro Tom“ zum „Savant Syndrom“
Die Entdeckung eines Phänomens

Gefangen im Selbst
Autismus und Asperger-Syndrom

Der echte „Rain Man“
Kim Peek - nicht alle Savants sind Autisten

Rechtes und linkes Hirn
Wo im Gehirn sitzen die Inselbegabungen?

Das Rätsel der „erworbenen“ Inselbegabungen
Daniel Tammet: Mathegenie durch Epilepsie

Steckt ein „Rain Man“ in uns allen?
Auf der Suche nach den Auslösern des Savant-Syndroms

Gibt es das „Savant-Gen“?
Die genetische Basis von Autismus und Inselbegabungen

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