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Krebsrisiko steigt

Gesundheitsfolgen durch den Reaktorunfall

Spätfolgen des Reaktorunfalls? © Andreas Strauß

Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl wurde der Zusammenhang der Strahlenexposition und der Erkrankungsrate an Schilddrüsenkrebs detailliert untersucht. Für andere Krebserkrankungen wie Leukämien und Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems wurden wegen der relativ geringen Strahleneffekte nur wenige Studien durchgeführt. Demgegenüber gibt es einige Untersuchungen der sozialen und psychologischen Folgen des Unfalls. Widersprüchliche oder unklare Aussagen gibt es zu Missbildungen bei Neugeborenen, Totgeburten und erhöhter Kindersterblichkeit.

Schilddrüsenkrebs nimmt zu

Seit 1990 gibt es in Weißrussland und in den stärker kontaminierten Gebieten der Ukraine – Zhytomyr, Chernihiv und Kyiv – und Russlands eine signifikante Zunahme der Schilddrüsenkrebsrate bei Menschen, die zum Unfallzeitpunkt Kinder oder Jugendliche waren. In Gomel, dem am höchsten kontaminierten Gebiet in Weißrussland, war der Effekt besonders dramatisch. Hier war die beobachtete Anzahl von Fällen um einen Faktor sechs höher als die Spontanrate, für die allerdings nur ein Schätzwert vorliegt.

Jährliche Schilddrüsenkrebsoperationen unter denjenigen, die zum Zeitpunkt des Tschernobylunfalls Kinder oder Jugendliche waren. © nach Peter Jacob / GSF

Insgesamt wurden im Zeitraum 1986 bis 2002 in der Ukraine und Weißrussland unter denjenigen, die zum Zeitpunkt des Unfalls Kinder und Jugendliche waren (Geburt vor 1986), 4.400 Schilddrüsenkrebsfälle registriert. Im Geburtsjahrgang 1986 waren es 124 Fälle. Unter Berücksichtigung der höher kontaminierten Gebiete Russlands – Bryansk, Kaluga, Orel, Tula – erhöhen sich die Zahlen um zirka zehn Prozent.

In Gomel war die Inzidenzrate – die Anzahl der Neuerkrankungen dividiert durch die Individuenzahl – um mehr als einen Faktor zehn höher als in den niedriger kontaminierten Gebieten der Ukraine. Das relative Risiko an Schilddrüsenkrebs zu erkranken, lag um einen Faktor drei höher als in den USA, wobei diese die höchste Schilddrüsenkrebsrate aller Länder, die große Krebsregister führen, aufweist. In der Ukraine waren die Schilddrüsendosen im Mittel deutlich niedriger. Dementsprechend lag die Inzidenzrate im mittleren Bereich der Raten, wie sie auch in nicht vom Reaktorunfall betroffenen Ländern vorkommen.

Strahlenwirkung oder bessere Nachweisrate?

In den 1990er-Jahren entstand eine Diskussion darüber, ob die Zunahme von Schilddrüsenkrebs direkt auf die Strahlenwirkung oder eher auf eine verbesserte Nachweis-und Berichtsrate der Krebsfälle zurückzuführen sei. Durch Autopsiestudien in verschiedenen Ländern ist bekannt, dass zirka zehn Prozent der Bevölkerung Schilddrüsenkrebs haben, ohne dass dies vor dem Tod bekannt wird. Ein Teil dieser so genannten okkulten Schilddrüsenkrebsfälle kann durch verbesserte Untersuchungsmethoden entdeckt werden.

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Tatsächlich wurden in den kontaminierten Gebieten vermehrt Ultraschalluntersuchungen der Schilddrüsen durchgeführt. Aber auch ohne Ultraschall führt schon eine höhere Aufmerksamkeit bei medizinischen Untersuchungen zu einem häufigeren Nachweis von Schilddrüsenkrebs. Drei Fall-Kontrollstudien in Weißrussland und Russland zeigten allerdings einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Strahlenexposition und Erhöhung der Inzidenzrate.

Eine Untersuchung der Schilddrüsenkrebsinzidenz in den oben schon genannten 1.034 ukrainischen und weißrussischen Orten ergab, dass die jährliche Anzahl der zusätzlichen Krebsfälle über den gesamten Beobachtungszeitraum von 1990 bis 2001 kontinuierlich angestiegen ist. Daraus kann geschlossen werden, dass ein wesentlicher Teil der Schilddrüsenkrebsfälle wohl erst in der Zukunft zu erwarten ist. Andererseits nimmt die spontane Schilddrüsenkrebsinzidenz mit zunehmendem Alter der Exponierten zu, so dass das relative Risiko – das Verhältnis der Gesamtfälle zu den Spontanfällen – mit der Zeit nach der Exposition abnimmt.

Große Überlebenschance bei Schilddrüsenkrebs

Eine Analyse der in den verschiedenen Gebieten der Ukraine und Weißrusslands aufgetretenen Strahlenexpositionen und Schilddrüsenkrebsfälle zeigte, dass die spontane Schilddrüsenkrebsinzidenz durch die verbesserte Nachweis- und Berichtsrate von 1988 bis 1999 in den höher kontaminierten Gebieten um einen Faktor drei und in den niedriger kontaminierten Gebieten um einen Faktor zwei zugenommen hat. In den Jahren 1990 bis 2001 sind nach dieser Analyse 30 Prozent der ukrainischen und 60 Prozent der weißrussischen Fälle der Jahrgänge 1968 bis 1985 direkt auf die Strahlenexposition zurückzuführen.

Eine langfristige Beobachtung von 741 weißrussischen Schilddrüsenkrebspatienten, die im Kindesalter operiert worden waren, ergab eine fünfjährige Überlebensrate von 99,3 Prozent und eine zehnjährige Überlebensrate von 98,5 Prozent. Es gibt also eine hohe Überlebenschance für die Schilddrüsenkrebspatienten. Allerdings traten bei 27 Prozent der Patienten Rückfälle (Rezidive) auf.

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Stand: 21.04.2006

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Der Unfall von Tschernobyl
Eine Bilanz 20 Jahre danach

Supergau im Reaktorblock 4
Der bisher größte nukleartechnische Unfall aller Zeiten

Gefährliche Gamma-Strahlung
Radioaktive Kontaminationen

Keine Entwarnung in Sicht…
Cäsium-137 mit Langzeitwirkung

Strahlende Schilddrüsen
Strahlenexpositionen der Bevölkerung

Krebsrisiko steigt
Gesundheitsfolgen durch den Reaktorunfall

Leukämien, Ängste und Depressionen
Noch mehr Erkrankungen durch hohe Strahlenbelastung?

Ein Frühwarnsystem für Umweltradioaktivität
Bessere Strahlenschutzvorsorge in Deutschland

Mahnmal Tschernobyl
Erkenntnisse für den Katastrophenschutz

Diaschauen zum Thema

keine Diaschauen verknüpft

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