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Phänomene

Kaltwasserkorallen im Nordmeer

Überlebenskünstler in der Tiefe

Forschungsschiff Poseidon im norwegischen Stjersund © A. Freiwald, IPAL-Erlangen

Knapp elf Jahre ist es her, dass Paläontologen der Universität Erlangen-Nürnberg eine geradezu sensationelle Entdeckung machten: An den Kontinentalrändern des kalten Nordatlantiks sowie der Barents-See fanden sie Riffstrukturen, die bislang nur aus den warmen und lichtdurchfluteten Flachwassermeeren der subtropisch-tropischen Klimazone bekannt waren. Vor allem die Steinkoralle Lophelia pertusa lebt in Tiefen von mehr als 1.000 Metern und bildet dort große Kolonien.

Plankton-Festschmaus

„Die Riffe sitzen häufig an topographisch erhabenen Positionen, an denen sich die Strömungen und somit auch der Nahrungsanteil konzentrieren“, erklärt der Korallen-Experte und HERMES-Forscher André Freiwald die Lebensbedingungen der Tiere. Die Korallenpolypen sind wirbellose Tiere, welche zumeist nicht größer als zehn Millimeter werden. Sie bestehen vorwiegend aus einem sackförmigen Körper und einer Mundöffnung, die von Tentakeln umgeben ist. Zum Nahrungsfang strecken sie die mit Nesselkapseln ausgestatteten Fangarme aus und fischen so ihre Nahrung aus dem Wasser. „Nicht-symbiontische Korallen, wie Lophelia, ernähren sich von Zooplankton wie beispielsweise Ruderfußkrebsen“, ergänzt Freiwald.

Kolonie der Koralle Lophelia pertusa in 304 Meter Wassertiefe am Riff Traena (Norwegen) © A. Freiwald, IPAL-Erlangen

Eines der imposantesten Korallenriffgebiete des Nordatlantiks ist der Sula-Rücken vor der Küste Norwegens. Auf dreizehn Kilometern Länge und 400 bis 600 Meter Breite sind dutzende individuelle Rifflandschaften entwickelt. Das durchschnittlich 15 Meter hohe Riff liegt in einer Tiefe von „nur“ maximal 320 Metern auf Geröllbarrikaden, die in den Eiszeiten bei wesentlich niedrigerem Meeresspiegel durch strandende Eisberge förmlich aufgeschoben wurden. Doch der Sula-Rücken ist nur der nördlichste Teil eines großen Korallengürtels, der sich im lockeren Verbund über tausende Kilometer vom iberischen Kontinentalhang bis nach Nordnorwegen erstreckt.

Bis zu 30 Millionen Jahre alt

Mittlerweile haben die Forscher herausgefunden, dass die Riffe im Nordmeer sehr vorsichtigen Schätzungen zufolge über 200.000 Jahre alt sind. Einzelne Riffgebiete konnten die Paläontologen sogar durch Fossilienfunde bis in das Oligozän vor rund 30 Millionen Jahren zurückdatieren. „Die eigentliche Erforschung der biologischen Langzeitdynamik und Funktionalität der Artengruppen steht erst am Beginn“, schränkt jedoch Freiwald die Forschungserfolge der letzten Jahre ein. Deshalb statteten die Wissenschaftler erst vor wenigen Monaten den Riffen im Rahmen von HERMES mit dem Tauchboot JAGO erneut einen Besuch ab. „Dabei ging es uns vor allem um die Milieubedingungen der Korallen, wie zum Beispiel die Substratbeschaffenheit des Untergrundes und das Strömungsregime“, erläutert Freiwald. Neben der Entstehungsgeschichte wollen die Forscher damit insbesondere herausfinden, wie rasch diese tiefmarinen Ökosysteme auf Umweltveränderungen reagieren können.

Wissenschaftler untersuchen einen Bohrkern aus dem norwegischen Stjersund. © A. Freiwald, IPAL-Erlangen

„Vor allem die Rolle von Kaltwasserriffen als Lebensraum für Fischpopulationen muss geklärt werden. Obgleich es zurzeit noch schwer zu quantifizieren ist, verdichten sich die Hinweise zur Bedeutung der Riffe als Kinderstube für viele Arten“, fügt Freiwald hinzu. Dabei gehören diese uralten tierischen „Wohngebiete“ möglicherweise schon bald der Vergangenheit an. „Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Riffgebiete im Einzugsgebiet der klassischen Hochseefischerei liegen“, gibt Freiwald zu Bedenken. Doch zumindest auf ihrer letzten Expedition im Sommer mit dem Forschungsschiff Poseidon konnten die Wissenschaftler in den norwegischen Gewässern erfreulicherweise keine größeren Schäden feststellen. Trotzdem ist es für eine Entwarnung sicherlich zu früh, denn Meeresverschmutzung und Schleppnetzfischerei könnte den Kaltwasserriffen schneller zusetzen, als die Wissenschaftler ihre Bedeutung erforschen können.

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Stand: 16.12.2005

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Kontinentalränder
Forschung in Europas Unterwasserreich

Unbekannte Nachbarschaft
Über das Niemandsland am Meeresboden

Vom Strand bis in die Tiefsee
Eine Reise zu den Kontinentalabhängen

Von Sedimentfallen und Unterwasserlawinen
Wie Hangrutschungen die Kontinentränder verändern

„Grand Canyon“ unter Wasser
Von turbulenten Strömen und Kinderstuben

Kaltwasserkorallen im Nordmeer
Überlebenskünstler in der Tiefe

Gebirge am Meeresgrund
Die Geologie der Kontinentalränder

Mal Land, mal Meer
Meeresspiegel- schwankungen

Rülpsende Schlammvulkane
Methanhydrat: Lebensquell und Klimakiller

Süßwasser im Ozean
Kalte Quellen am Meeresgrund

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